Treue früher und heute: Wie hat sich die Vorstellung von Treue in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten gewandelt?

Früher, da gab's das andauernd: Zwei Menschen schworen sich ewige Treue und hielten sich diese auch ein Leben lang – nämlich genau, bis dass der Tod sie dann voneinander schied. Noch vor 50 Jahren war eine Scheidung eher die Ausnahme, wenn's irgendwie ging, dann blieb man halt zusammen. Seitdem hat sich eine ganze Menge geändert. Wenn Sie zur Generation 40 + gehören, kann es zwar durchaus sein, dass Ihre Eltern noch in trauter Zweisamkeit vereint sind, aber schon in dieser Kohorte gehörte Treue nicht mehr zum Standardprogramm. Und heute scheinen die meisten Menschen zwar theoretisch sehr viel von Treue zu halten – praktisch geht aber jeder zweite Deutsche im Laufe einer festen Beziehung fremd. Gehen wir heute einfach nur anders mit Treue um, ist sie uns nichts mehr wert oder taugt sie einfach in moderenen Liebeszeiten nicht mehr als finaler Beziehungskitt? Und wie war das vor 50 oder 100 Jahren, befürworteten mehr Menschen die Treue als erstrebenswerte Tugend und blieben deshalb bis zum Sanktnimmerleinstag, in guten wie in total schlechten Zeiten zusammen? Sie ahnen es sicherlich schon: Ganz so einfach ist das nicht. Wir haben mal in unseren Sachbüchern nachgeforscht, was dort dazu so steht. Weiter lesen

#1 ANTWORT

»Leidenschaft ist vergänglich, weswegen sie schon immer ausgelagert worden ist«

Der Wunsch nach ewiger Treue in Kombination mit leidenschaftlicher Liebe ist ein ziemlich neuzeitliches Begehren. Das legt Franz Josef Wetz in Lob der Untreue dar. Früher waren Ehen kluge Zweckgemeinschaften, die auf Dauer angelegt sein mussten, weil sie irgendwie das Überleben der Partner, der Nachkommenschaft, wenn nicht gar der ganzen Sippe sicherten. Eine Ehe etwa im 17. und 18. Jahrhundert sollte dauerhaft und stabil sein, darum kamen leidenschaftliche Liebe und erotisches Begehren als Basis für diese lebenslange Bindung nicht in Frage, schreibt Wetz. Denn schon damals hätten die Menschen, obwohl liebestheoretisch nicht mal ansatzweise so geschult wie wir heute, erkannt, dass Leidenschaft schneller vergeht als man denkt. Denn, so belegt Wetz, aus evolutionsbiologischer Natur ist sie ab einem gewissen Punkt überflüssig, dann braucht sie neue, stärkere Reize, um wieder zu entfachen. Kurzum: Unsere Ahnen wussten um die Vergänglichkeit der leidenschaftlichen Liebe, weswegen sie diese nicht selten sozusagen outsourcten: Mätressen, Kurtisanen und Freudenmädchen waren in vorigen Jahrhunderten oftmals zuständig für das erotische Kerngeschäft, während die Ehefrauen unbehelligt blieben. Sie hielten jedoch in der Regel den ersten Platz, was einer etwas pragmatischen Treueauffassung entspricht, die damals wohl ziemlich weit verbreitet war: Eheleute blieben zusammen, egal, was geschah, meist genossen die Männer etwas mehr Freiraum als die Frauen. Theoretisch gesehen waren sich anno dazumal sicherlich viele Paare treu. Praktisch gesehen hatte aber wohl die Untreue, die heimliche, gebilligte, gute Karten.

Autor: Prof. Franz Josef Wetz
Buch: Lob der Untreue

#2 ANTWORT

»Treue ist eine kulturelle Leistung und ist nicht in unseren wahren Bedürfnissen verankert«

Rund 86 Prozent aller Frauen setzen Liebe mit sexueller Treue gleich – ein neuzeitliches Phänomen, wie die Gerti Senger belegt. In Schattenliebe – Nie mehr Zweiter(r) sein erläutert sie, dass erst im 18. Jahrhunder die Liebesehe aufkam, deren Grundlage nicht mehr wie bisher das wirtschaftliche Bündnis und die Kinderaufzucht waren, sondern sexuelle Anziehungskraft. Heute, meint Senger, sei Monogamie das Paarungssystem, dass wir unserem Bindungsverhalten zugrundelegen. Sie sei allerdings eine kulturelle Leistung – und habe ihre Ursache nicht in unseren wahren Bedürfnissen. Das Phänomen Liebe sei Schätzungen zufolge vor etwa vier Millionen Jahren aufgekommen, als sich der Mensch vom Nasentier zum Augentier entwickelte, weil er sich aufrichtete. Mann und Frau standen sich plötzlich gegenüber und der Mensch passte sein Sexualverhalten dementsprechend an: Damals, so die Expertenannahme, sei die Grundlage für die chemischen Systeme entstanden, die für unsere Liebesgefühle verantwortlich sind. Und sie bildeten letzlich die Grundlage für die Liebesbindung und damit auch für so etwas wie Treue. Die ist heute wie gestern also nichts weiter als evolutionsbiologischer Mechnismus? Eben nicht, meint Senger, Treue sei in der Tat eine kulturelle Leistung. Um es ganz unromantisch zu sagen: Es gehöre zu unserem kulturellen Selbstverständnis, einen biologischen Konflikt zu lösen – man überprüft, wie groß das Risiko der Untreue sei und wägt ab, was der Preis dafür ist. Der Verzicht, so Senger, auf den Erregungskitzel und die Fähigkeit zur Frustrationstoleranz seien dann der Triumph der Kultur über die Natur.

Autor: Prof. Dr. Gerti Senger
Buch: Schattenliebe –  Nie mehr Zweite/r sein

#3 ANTWORT

»Auch heute werde sexuelle Untreue bei Männern und Frauen unterschiedlich bewertet«

Früher war alles besser? Ha, wer's glaubt! Heutzutage sei die Paarbeziehung zwar dadurch überfordert, dass sie auf Entscheidungen beruhe. Aber dass eine Liebesanbahnung über die Eltern besser sein sollte, bezweifelt Wolfgang Schmidbauer. Heutzutage, schreibt Schmidbauer in Die heimliche Liebe, seien intensive Liebeswünsche, die früher etwa über die Religion ausgelebt wurden, komplett verweltlicht: Wir projizieren sämtliche Begierden auf den Partner. Und Treue ist einer der hohen Ansprüche, die wir an uns und andere stellen. Dabei, so Schmidbauer, gebe es heute aber keine einheitliche äußere Autorität, die den Umgang mit dem regelt, was als sexuelle Treue gefordert werden könne. Früher habe zum Beispiel die Kirche als mächtige Kontrollinstanz die Sache mit den Begierden im Griff gehabt, der Fleicheslust zu fröhnen, also sexuell untreu zu werden, war eine Sünde, der es Einhalt zu gebieten galt. Heute haben wir nicht mehr so einen Anker im Meer der Liebesmöglichkeiten – und das ist gut so. Niemand kann uns zur Treue zwingen, es gibt unendlich viele Varianten davon und auch wenn Untreue gesellschaftlich noch recht verpönt ist, ist ein nicht auf Dauer einhaltbares Treuegelöbnis auch kein wirklicher Beinbruch. Weit entfernt sind wir in der Moderne von den Zeiten, in denen Frauen als Ehebrecherinnen mit der Todesstrafe rechnen mussten, während der Hausherr freie Sexwahl hatte, schreibt Schmidbauer. Dennoch werde auch heute noch sexuelle Untreue bei Männern und Frauen unterschiedlich bewertet: Wenn eine Frau dem untreuen Mann den Liebesbetrug mit gleicher Münze heimzahle, falle doch noch oft der Spruch, das sei bei einer Frau doch etwas ganz anderes.

Autor: Wolfgang Schmidbauer
Buch: Die heimliche Liebe

#4 ANTWORT

»Liebe und Sex waren seit Menschengedenken zwei Paar Schuhe«

Andrea Bräu holt in Es war doch nur Sex ziemlich weit aus und hält uns eine Liebesvergangenheit mit archaischen Wertvorstellungen und ungerechten Verhaltensregeln vor Augen. Liebe und Sex, so ihr Resümee, waren seit Menschengedenken eigentlich so was wie zwei Paar Schuhe. In der Antike waren sexuelle Außenbeziehungen gang und gäbe, im römischen Reich galt Ehebruch als Straftatbestand – allerdings nur für Frauen. Die hatten kein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, was eng mit der unterlegenen Rolle der Frau zusammenhing. Im Mittelalter dann streckte die Kirche ihre mächtigen Finger aus und sanktionierte unangebrachtes Verhalten: Jede Form der Sexualität, die nicht der Fortpflanzung diente, wurde als sündig erklärt. Damit wurde Treue im weitesten Sinne zu einer religiösen Pflicht, was unter den Bettdecken oder in Freudenhäusern geschah, wurde gewissenhaft ignoriert. Später im Mittelalter brachte das höfische Liebesideal noch einmal eine andere Nuance in die Auslegung der Liebestreue: Minnesänger etwa hatten es auf verheiratete Frauen aus höfischen Kreisen abgesehen, denen sie ihre platonische Liebe per Minnegesang gestanden – ohne dass es jemals eine Erfüllung der Liebe gab. Die normalen Menschen sollten schön fruchtbar sein und sich ordentlich mehren, aber ohne Spaß bitteschön. In festen Beziehungen geriet Sex also zur Pflichtübung, wer dort Leidenschaft fand, konnte sich sehr glücklich schätzen. Die Aufklärung in der Neuzeit führte dann zu einer rapiden Individualisierung – und plötzlich hatte auch die Liebe so etwas wie einen Sinn und diente nicht nur zur Durchsetzung evolutionsbiologischer Triebe. Und spätestens im 20. Jahrhundert dann kam man auf den Trichter, dass es Liebe und Sex wohl doch im Doppelpack geben könne – Ehen waren nicht mehr bloße Zweckgemeinschaften, sie sollten als Liebesbeziehungen auch Erfüllung bringen. Treue wurde nun plötzlich ein kostbares Gut, das nicht mehr von materiellen oder ökonomischen Zwängen gespeist wurde, sondern auf Freiwilligkeit beruhte. Und wenn der Mensch sich früher stark an Normen orientierte, gilt heute für die meisten Menschen eine eigene Norm, schreibt Andrea Bräu. Wir seien frei in unserer Wahl, das sei zwar zunächst schön und gut, aber wir müssten uns heutzutage eben bewusst für (oder auch gegen) die Treue entscheiden, denn sie wird uns nicht mehr von außen als Zwang auferlegt. Und wer die Wahl hat, hat oftmals die Qual: Es sei gar nicht so leicht, sich bei den vielen Liebesoptionen zu entscheiden.

Autor: Andrea Bräu
Buch: Es war doch nur Sex

#5 ANTWORT

»Treue zu sich selbst bekomme immer mehr einen zentraleren Stellenwert als Treue zum anderen«

Während sich früher der Einzelne als Teil eines umfassenden Ganzen begriffen habe, dem er sich unterordnen musste, sei heute die Selbsverwirklichung in den Mittelpunkt gerückt, das meint Hans Jellouschek in Warum hast du mir das angetan? Er schreibt, nicht mehr die Existenzsicherung und das Weiterführen der Generationenfolge stehen im Vordergrund, sondern die wechselseitige Erfüllung individueller Glücksvorstellungen. Das habe auch Auswirkungen auf unser Verständnis von Treue. Wenn in früheren Jahrhunderten Versorgung und Fürsorge der Partner den Treuekern bildeten, ist es heute die leidenschaftliche, erotische Liebe. Darum werde die Bindung der Partner aneinander auch weniger als objektiv vorhandenes eheliches Band verstanden, sondern als eine Gefühlstatsache, die entweder vorhanden sei oder eben nicht. Dabei, so formuliert es Jellouschek, bekomme die Treue zu sich selbst einen immer zentraleren Stellenwert als die Treue zum anderen, mit der sie immer häufiger in Konflikt gerate. Treue als Wert an sich wird ihm zufolge immer mehr zur Interpretationssache beziehungsweise zu einem individuellen Bekenntnis: Wenn sich heute Partner treu bleiben, dann tun sie das immer weniger aus familiären, ökonomischen oder weltanschaulichen Gründen wie das früher der Fall war, sondern weil es ihnen ein Bedürfnis ist, treu zu bleiben und sie ihre Beziehung als subjektiv befriedigend und sinnhaft erleben. Und wenn genau das nicht mehr der Fall ist, hat es sich dann auch unter Umständen recht schnell mit der Treue: Wer in seiner Beziehung unglücklich, unbefriedigt oder gelangweilt ist, hat immer weniger überzeugende Argumente für die Aufrechterhaltung der Partnerschaft – und damit der Treue. Denn die unterliegt letzlich unkalkulierbaren Schwankungen, weil jeder ein anderes subjektives Empfinden hat.

Autor: Dr. Hans Jellouscheck
Buch: Warum hast Du mir das angetan?

#6 ANTWORT

»Das Prinzip der Liebesehe kennen wir erst seit ungefähr 200 Jahren«

Untreue mag zwar heute kein wirkliches Tabu mehr sein, ein Reizthema ist es aber allemal, das findet Wolfgang Krüger. Während der Arbeit an seinem Buch Das Geheimnis der Treue machte er immer wieder die Erfahrung, dass Menschen sensibel auf das Thema reagieren. Kein Wunder, findet er, bedenkt man, dass es wohl kaum eine Sache gibt, bei der Ideal und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen: Mehr als 90 Prozent aller Menschen wünschen sich Treue, schreibt er, aber mehr als die Hälfte hätte schon einmal einen Seitensprung begangen. Demnach kann es ja nicht so weit her sein mit der Treue, die Krüger als eine Fähigkeit bezeichnet, die eine gewisse Stärke, Standhaftigkeit und ein Beharrungsvermögen erfordere – heutzutage. Bei den Babylonieren etwa sei sexuelle Aktivität außerhalb der Partnerschaft recht üblich gewesen, auch die Römer seien mit der Treue recht lax umgegangen. Das Prinzip der Liebesehe, schreibt Krüger, das Untreue so problematisch macht, würden wir eigentlich erst seit 200 Jahren kennen. Früher wurde aus sachlichen Gründen geheiratet, in der Romantik sei dann der Wunsch nach Liebesverwirklichung mit einer einzigen Person als Ideal aufgekommen – das sei sozusagen die Geburtsstunde unserer heutigen Treueauffassung gewesen. Treue existiert als Wert, solange man sich liebt. Wenn man sich nicht mehr liebt, dann trennt man sich. Materielle Gesichtspunkte spielen eine immer untergeordnetere Rolle, wir suchen in der Ehe emotionale Erfüllung. Und für viele ist gerade in unseren schnelllebigen Zeiten der andere der Fels in der Brandung, deshalb, so Krüger, sei Treue so wichtig. Das Eintreten für die Treue, das meint Krüger, wirke heute fast ein wenig altmodisch. Dabei sei sie sehr zeitgemäß, denn wir alle bräuchten Verlässlichkeit und starke soziale Wurzeln, um von den Stürmen des Lebens nicht fortgeweht zu werden. Nichtsdestotrotz hält Krüger nichts davon, Treue zu einem starren Lebensprinzip werden zu lassen, von dem man nicht abweichen darf. Letztlich müsse sich die Treue für jeden ganz persönlich als vorteilhaft erweisen. Wobei wir wieder bei der individuellen Auslegung der Treue in modernen Zeiten sind.

Autor: Dr. Wolfgang Krüger
Buch: Das Geheimnis der Treue

Fazit

»Das Treueverständnis obliegt in der individuellen Verantwortung jedes einzelnen Paares«

Treue, das war anscheinend früher eine Sache, die es in Ehen standardmäßig zu geben hatte – Untreue konnten sich viele schlichtweg gar nicht leisten. Frauen etwa waren noch vor einigen Jahrzehnten finaziell und auch hinsichtlich ihres sozialen und gesellschaftlichen Status in der Regel abhängig vom Gatten. Klar, dass Treue da eine etwas andere Bedeutung hatte als heute. Sexuelle Schmankerln hat da sicherlich so manch eine brave Ehefrau stillschweigend gebilligt, Hauptsache, der Mann blieb letzlich bei ihr (und den Kindern und dem Haus). Umgekehrt genossen Männer zwar etwas mehr Freiheit und bekamen einen Seitensprung auch mal als Kavaliersdelikt verziehen, andererseits waren auch sie nicht selten abhängig davon, dass die Gattin zuhause das traute Familienleben organisierte. Also hatte auch er, zumindest rein theoretisch betrachtet, gute Gründe, ehefrauliche Untreue in verträglichen Maßen hinzunehmen. Hier wurde allerdings mit zweierlei Maß gemessen: Was Mann erlaubt war, konnte Frau sich nicht unbedingt leisten. Die Regel war doch eher: Man verkniff sich manches, der Preis war einfach zu hoch. Heute messen wir der Treue einen ganz anderen Stellenwert bei – Umfragen zufolge ist sie für viele Menschen das A und O einer Partnerschaft. Allerdings unterliegt sie heute auch mehr denn je der jeweiligen Interpretation. Was ein Paar unter Treue versteht, ist indivduell sehr verschieden: Die einen halten an der sexuellen Exklusivität fest, andere sind da toleranter und sehen Ehrlichkeit und Zusammenhalt als Kern ihrer Treuevereinbarung. Letztlich obliegt es immer den Paaren selbst, wie sie Treue definieren und vor allem leben. Denn heute, das ist die Quintessenz, gibt es zwar gesellschaftliche Normen, die auch unseren Soll-Umgang mit Treue regeln. Aber eigentlich muss jeder für sich selbst herausfinden, wie, warum und wo er treu sein will.

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